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Komorbidität1

Epidemiologische Daten

  • Personen mit einer psychiatrischen Erkrankung stellen eine Risikopopulation für eine hohe Raucherprävalenz bzw. hohen Tabakkonsum und damit verbundene tabakassoziierte Erkrankungen dar. Häufig geht die vermehrte Ausprägung der Nikotinabhängigkeit mit einer geringeren Abstinenzerwartung in dieser Population einher.
  • Angststörungen, Aufmerksamkeitsdefizit-Störungen, Posttraumatische Belastungsstörungen, affektive Störungen, psychotische Störungen und bestimmte Formen der Persönlichkeitsstörungen gehen mit höheren Raucherprävalenzraten einher.
  • Komorbiditäten mit Rauchen sind häufig:
    • Zwischen 25-33% der Personen mit Nikotinabhängigkeit weisen eine psychiatrische Diagnose auf.
    • Die Mehrzahl der Menschen mit einem psychiatrischen Leiden rauchen mehr als psychisch Gesunde.
    • Die Raucherprävalenz bei Personen mit schizophrener Psychose liegt bei 68-94%,
    • bei Personen mit affektiven Störungen zwischen 40-50%
    • und bei Personen mit Panikstörung 20-30%.
    • Sehr hohe Komorbiditätsraten weisen Personen auf, die unter einer Alkohol- bzw. Drogenabhängigkeit leiden:
      • Bei Alkoholabhängigkeit beträgt die Nikotin-Komorbiditätsrate >80%,
      • und bei Drogenabhängigkeit >95%.
      • Alkohol- und Drogenabhängige rauchen mehr Zigaretten pro Tag, sind stärker nikotinabhängig als andere Raucher und erreichen höhere Serumnikotin- und Serumcotininkonzentrationen (primäres Abbauprodukt des Nikotins).
      • Exzessives Trinken ist oft mit einer Unfähigkeit zur Tabakabstinenz verbunden. Rauchende Alkoholkranke trinken mehr Alkohol als nichtrauchende Alkoholiker und haben mehr Schwierigkeiten, alkoholabstinent zu werden. Sie berichten ausserdem von einem intensiveren Trinkverlangen.
      • Die Mehrfachabhängigkeit, insbesondere der gleichzeitige Konsum von Sedativa und illegalen Drogen, geht meist mit einem intensiveren Tabakkonsum einher.
      • Die Mehrheit der drogen- und alkoholabhängigen Patientinnen und Patienten ist kaum in der Lage, langfristig tabakabstinent zu leben.
      • Eine Rauchstopp-Intervention bei Personen, die sich in einer Behandlung ihrer Alkoholabhängigkeit oder des Missbrauch anderer Substanzen befinden, hat jedoch nicht häufigere Rückfälle zur Folge. Eine solche Intervention erhöht gar die Wahrscheinlichkeit einer längerfristigen Abstinenz von Alkohol oder anderen Substanzen um 25%.
    • Neben dem Einfluss einer Reihe von krankheitsspezifischen Gründen werden auch Effekte durch die spezifische psychopharmakologische Medikation für die erhöhte Raucherprävalenz und die erhöhte Intensität des Rauchens verantwortlich gemacht.

Psychiatrische Patientinnen und Patienten sind vergleichsweise starke Rauchende

  • Bei psychiatrischen Patienten scheinen zentrale Nikotineffekte stärker zu wirken als bei nicht-psychiatrischen Personen.
  • Wie Übersichtsstudien (Chaiton et al., 2009) festhalten, ist Rauchen ein Prädiktor für Depressionen und umgekehrt.
  • Unter anderem zeigen Fallberichte bzw. Raucherentwöhnungsstudien, dass im Rahmen einer Raucherentwöhnung auch die Gefahr eines schwerwiegenden depressiven Rezidivs steigen kann.
  • Es besteht bei der Gesamtheit aller Rauchenden ein 3-fach erhöhtes Risiko im Laufe des Lebens an einer depressiven Störung zu erkranken (die Lebenszeitprävalenz einer depressiven Störung liegt bei Rauchenden etwa 30–60 %.).
  • Ca. 10–20 % aller Rauchenden entwickeln während einer 12-monatigen Abstinenz eine depressive Störung, der überwiegende Teil davon während der ersten 3 Monate nach Beendigung des Nikotinkonsums. Dies betrifft vor allem Personen, die sehr früh (< 15 Jahre) mit dem Rauchen begonnen haben. Sie tragen in der Phase der Rauchentwöhnung ein 2-fach erhöhten Risiko an einer depressiven Störung zu erkranken.
  • Aus einer jüngsten bevölkerungsbasierten Untersuchung wurde festgestellt, dass Nikotinabhängigkeit per se mit einem etwa 8-fach erhöhten Suizidrisiko einhergeht.
  • Des Weiteren sind negative Konsequenzen bekannt, die sich aus der Verbindung zwischen Tabakkonsum und psychiatrischer Erkrankung ergeben:
    • Hierzu zählen ein insgesamt schlechterer körperlicher Gesundheitszustand,
    • eine geringere Behandlungscompliance im Hinblick auf die Medikamenteneinnahme
    • und eine schlechtere medizinische Versorgung.
  • Schizophrene und depressive Patientinnen und Patienten haben eine höhere Mortalitätsrate durch Erkrankungen des kardiovaskulären Systems, des Respirationstrakts sowie eine höhere Prävalenz für Karzinomerkrankungen. In Verbindung mit einem gehäuft auftretenden chronischen Tabakkonsum ist dies dann besonders ungünstig zu werten.
  • Polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe im Tabakrauch führen zu einer Enzyminduktion (CYP1A2, UGT) und beschleunigen dadurch den Abbau zahlreicher Psychopharmaka, insbesondere der Antipsychotika. Schizophrene Rauchende erhalten mehr Neuroleptika als Nichtrauchende mit dem gleichen Leiden.
  • Auch psychosoziale Faktoren kommen zum Tragen: So sind zahlreiche Patientinnen und Patienten mit einer ernsthaften psychiatrischen Störung ausserdem in ihren finanziellen Möglichkeiten deutlich eingeschränkt. Die täglichen Aufwendungen für den Tabakkonsum verschlimmern ihre finanzielle Situation noch zusätzlich.

Rauchen und Schizophrenie

  • An Schizophrenie erkrankte Personen rauchen intensiver (vermutlich durch verstärkte Inhalation).
  • Untersuchungen an schizophrenen Patienten zeigten, dass in Bezug auf kognitive Leistungsparameter (Daueraufmerksamkeit, Arbeitszeitgedächtnis, das Kurzzeitgedächtnis bzw. die Wiedergabe aus dem Gedächtnis und den damit verbundenen zentralen Funktionssystemen) stärkere Nikotineffekte feststellbar waren als bei Gesunden. Dies könnte als Beleg für die Hypothese der Nikotin-Selbstmedikation zur Verbesserung der kognitiven Defizite gewertet werden.
  • Spekulativ bleibt, inwieweit intensiveres Rauchen auch den Zweck verfolgt, störende Effekte von Neuroleptika zu mildern (insbesondere extrapyramidal-motorische Nebenwirkungen).

Rauchen und affektive Störungen

  • Obwohl die Raucherprävalenz bei Personen mit affektiven Störungen bei 40-50% liegt, ist aktuell noch wenig bekannt zu den neurobiologischen Zusammenhängen zwischen Rauchen/Nikotinkonsum und Depression/Suizidalität.
  • Es gibt z.B. Überlegungen, wonach Verbindungen zwischen einer beeinträchtigten Stressregulation und dem Nikotinkonsum bestehen könnten. Dies untermauern Befunde, wonach z.B. bei Personen mit einem hohen psychischen Stress in der Kindheit das Ausmass der Nikotinabhängigkeit in den späteren Jahren ebenfalls hoch ist. Zudem sind Personen mit posttraumatischer Belastungsstörung (engl. Bezeichnung: „posttraumatic stress disorder“) häufig stark nikotinabhängig.

Rauchen und ADHS

  • Untersuchungen über den Zusammenhang zwischen einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und dem Tabakkonsum konnten nachweisen, dass der Raucheranteil bei ADHS-Patientinnen oder -Patienten höher ist als der Raucheranteil in der Allgemeinbevölkerung. So rauchen Erwachsene mit einem ADHS zweimal häufiger als die Gesamtbevölkerung.
  • Täglich rauchende ADHS-Patientinnen und -Patienten wiesen, gemäss Studien, höhere Tabakkonsumwerte und eine stärkere Nikotinabhängigkeit auf als Personen ohne ADHS. Der Nikotinkonsum habe meist in einem jüngeren Alter begonnen und die Konsumentinnen und Konsumenten seien früher zu einem regelmässigen Konsum übergegangen.
  • Neben den schon bekannten genetischen und sozialen Faktoren scheint Rauchen in der Schwangerschaft ein eigenständiger Risikofaktor für die spätere ADHS Entwicklung zu sein.
  • Als Grund für die enge Beziehung zwischen ADHS und Tabakkonsum wird die "Selbstmedikationshypothese" diskutiert. Betroffene rauchen um ihre ADHS-Symptome zu beeinflussen. Die Wirkung des Dopaminagonisten Nikotin ähnelt jener der Psychostimulanzien (wie z.B. Methylphenidat).
  • Studien konnten zeigen, dass Nikotin sowohl bei Erwachsenen als auch bei Jugendlichen mit und ohne ADHS die Aufmerksamkeitsleistung verbesserte und die ADHS-Symptome milderte.

Rauchen … und einige Folgen?

  • Die Gefährlichkeit des Rauchens wird insbesondere in der Behandlung von alkohol- oder drogenabhängigen Patientinnen und Patienten meist unterschätzt bzw. vergessen.
  • Der gleichzeitige Konsum von Tabak und Alkohol erhöht die Wahrscheinlichkeit vor dem 60. Lebensjahr zu versterben, auf mehr als 30%.
  • Das relative Krebsrisiko steigt bei einem kombinierten Konsum von Nikotin und Alkohol auf das 2,5fache an!

Raucherentwöhnungsbehandlung bei psychiatrischen Patientinnen und Patienten2

  • Die Raucherentwöhnungsbehandlung bei psychiatrischen Patientinnen und Patienten erfolgt grundsätzlich nach demselben Schema, wie bei Rauchenden in der Allgemeinbevölkerung. Leider gibt es diesbezüglich aber vergleichsweise noch wenige Studien. Es konnte aber gezeigt werden, dass die Kernelemente der Raucherentwöhnungsbehandlung bei Patientinnen und Patienten mit einer komorbiden psychiatrischen Störung ähnlich wirksam sind, wie bei Rauchenden ohne komorbide psychiatrische Störung.
  • Kernelemente der Raucherentwöhnungsbehandlung sind:
    • (wiederholte) ärztliche Beratungen, je nach klinischer Notwendigkeit
    • sowie unter Berücksichtigung etwaiger Kontraindikationen eine medikamentöse Behandlung mit Nikotinersatzprodukten, Vareniclin, Bupropion,
    • Kognitive Verhaltenstherapie mit dem Ziel der Verhaltensmodifikation und der Erarbeitung von Problemlösungsstrategien (Skills-Training“)
    • und bei Bedarf telefonische und psychosoziale Interventionen zur Motivationsunterstützung in der Verhaltensänderung.
  • Die für die Allgemeinbevölkerung entwickelten Therapiestrategien müssen an die spezifischen Bedingungen bei psychiatrischen Patientinnen und Patienten angepasst werden. So müssen auch Gruppen-Entwöhnungsbehandlungen in Bezug auf ihren adäquaten und hilfreichen Einsatz bei psychisch kranken Rauchenden stets gut geprüft werden.
  • Gerade bei Rauchenden mit einer depressiven Vorgeschichte gilt es während der Phase der Entwöhnungsbehandlung gut darauf zu achten, dass unter Umständen erneut depressive Symptome auftreten könnten, die dann gegebenenfalls wiederum einer antidepressiven Behandlung bedürfen.
  • Die Frage der Sicherheit einer psychopharmakologischen Entwöhnungsbehandlung bei Rauchenden im Hinblick auf eine unerwünschte psychiatrische Symptomentwicklung (z.B. Suizidalität) wird derzeit intensiv diskutiert. Es ist schwierig entsprechende unerwünschte Ereignisse (z.B. Suizidalität) in eine kausale Beziehung zur Medikamenteneinnahme zu stellen, da die Nikotinentwöhnung selbst (unabhängig von der Medikamenteneinnahme) ursächlich dafür infrage kommen kann. Die aktuelle Studienlage lässt somit kaum die Schlussfolgerung zu, dass die medikamentöse Raucherentwöhnungsbehandlung (z.B. mit Vareniclin oder Bupropion) in einer kausalen Beziehung mit unerwünschten psychiatrischen Ereignissen, insbesondere mit der Suizidalität, steht.

Weitere Zusammenhänge, die in der Literatur diskutiert werden

  • Tabak als Einstiegsdroge?
    • Der Tabakkonsum stellt nach Meinung vieler Autoren die Weichen für einen späteren Alkohol- und Drogenkonsum.
    • Eine Untersuchung zum Konsumverhalten jugendlicher Rauchender im Alter von 12 bis 17 Jahren ergab, dass 74% der Rauchenden, aber nur 24% der Nichtrauchenden zusätzlich Alkohol zu sich nahmen. Noch deutlicher gilt dieses Missverhältnis für Marihuana (47% versus 6%) und Opioide (9% versus 0%).
    • Dies hat mehrere Gründe: Die bessere Verfügbarkeit, die geringen Kosten und die besondere Bedeutung des Zigarettenrauchens als Ausdruck „erwachsenen“ Verhaltens unterstützen dessen Attraktivität.
    • Der frühe regelmässige Konsum der Zigarette mag zudem ein Hinweis auf die hohe Suchtpotenz des Inhaltsstoffs Nikotin sein.

1Zahlreiche Angaben sind dem Artikel „Rauchen und psychiatrische Erkrankungen: Ein Überblick“ von C. Winterer (Pre-Publishing Online, Journal für Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie, 16. November 2011, http://www.kup.at/kup/pdf/10232.pdf ) entnommen.

2Hinweise zur Raucherentwöhnung bei psychiatrischen Störungen vgl. auch Artikel Tabakentwöhnung: Update 2011, Teil 2

 

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